Prof. Dr. Stephan Martin Professor Dr. Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums Düsseldorf. Er unterrichtet am Universitätsklinikum Düsseldorf und schreibt auf seinem Blog rezeptfrei.de regelmäßig über aktuelle Ernährungsthemen.


Fokus Fleisch sprach mit dem renommierten Ernährungsmediziner und Diabetologen Prof. Dr. Stephan Martin über Ernährung und über Fleisch aus der Sicht der Ernährungswissenschaft.

Fokus Fleisch: Herr Professor Martin, schön dass Sie die Zeit für ein Interview gefunden haben. Wir starten mit einer vermeintlich einfachen Frage: Was ist gesunde Ernährung?

Um diese Frage prügelt sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten. Fakt ist aber nach wie vor: Es lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen zu „gesunder Ernährung“ treffen. Ich definiere Ernährung immer aus zwei Perspektiven: Zum einen über das Individuum, denn jeder Mensch ist anders. Allgemeine Empfehlungen ergeben also keinen Sinn. Zum zweiten über eine Erkrankung: Wer schlank ist und sein Gewicht hält, kann sich kaum falsch ernähren. Aber Menschen mit Übergewicht und ernährungsbedingten Erkrankungen müssen anders auf ihre Ernährung achten. Ich würde Ernährung also vor allem im Kontext von Erkrankungen sehen.

Fokus Fleisch: Wieso gibt es dennoch so viele Vorurteile über gesunde oder ungesunde Ernährung?

Ein gutes Beispiel dafür ist das Fett. Eines der größten Vorurteile ist, dass Fett schlecht für die Gesundheit wäre. In den 1970er und 1980er Jahren hat der Wissenschaftler Ancel Keys die Theorie aufgestellt, Fette würden unsere Halsarterien und Gefäße verstopfen. Das hieße: Je mehr Fett man isst, desto höher wäre das Herzinfarktrisiko. Als Folge wurden quasi alle Lebensmittel mit gesättigten Fetten aus unserer Ernährung verbannt. Und von dem Moment an sind die Menschen dick geworden, denn die Theorie ist einfach falsch. Gewöhnlicher Konsum von Fetten schadet der Gesundheit nicht. Ganz im Gegenteil: Wenn man Fett reduziert, erhöht man automatisch die Kohlenhydrate, und diese sind nach aktuellem Wissensstand für den Körper tendenziell schädlicher. Fett gehört also unbedingt zu einer ausgewogenen Ernährung dazu.

Fokus Fleisch: Fett macht nicht dick?

Stimmt. Was wirklich dick macht, sind industriell stark verarbeitete, fettreduzierte und dafür kohlenhydratreiche Produkte, denn diese treiben den Insulinspiegel in die Höhe. Menschen werden nicht dick, weil sie zu viel Fett essen. Sie werden dick, weil sie zu viel Insulin produzieren. Insulin ist ein Hormon, das die Aufnahme von Glucose in den Körperzellen reguliert. Zu viel Insulin im Körper senkt den Blutzucker und blockiert die Fettverbrennung. Als Folge nimmt man also schneller zu. Deshalb ist „Low-Insulin“ eine wichtige Prämisse bei der Prävention und Gewichtsreduktion. Insgesamt kommen Insulin und andere Hormone in der Ernährungsbetrachtung allerdings viel zu kurz – obwohl sie ein ganz entscheidender Treiber sind.

Fokus Fleisch: Ist also die alte Weisheit „die Menge macht das Gift“ in puncto Ernährung nicht zwingend korrekt?

Bei der Atkins-Diät isst man 3500 Kalorien am Tag in Form von Fett und Proteinen und nimmt trotzdem Gewicht ab. Das zeigt also, dass es nicht nur an der Menge der Kalorien liegt. Ernährung ist wesentlich komplizierter, da wir Menschen ganz verschiedene Hormonhaushalte haben.

Seit den letzten 20 Jahren wird immer das Gleiche erzählt: Lassen sie Kalorien weg und versuchen sie, Fett zu meiden. Und was passiert? Die Menschen werden dicker. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Menschen so ignorant, dass sie das nicht machen oder diese Empfehlung stimmt einfach nicht. Ich persönlich denke, das Letztere ist korrekt.

Fokus Fleisch: Ein Lebensmittel, das medial ebenfalls stark diskutiert wird, ist Fleisch. Wie denken Sie über Fleisch als Teil der Ernährung?

Aus ethischer Perspektive ist der Fleischkonsum natürlich eine individuelle Entscheidung. Aus ernährungswissenschaftlicher Sicht spricht aber nichts gegen Fleisch. Ganz im Gegenteil: Fleisch ist ein Naturprodukt, enthält viele Proteine und macht schon bei geringen Mengen lange satt. Im Gegensatz zu Fleischersatzprodukten sind viele tierische Lebensmittel auch kaum industriell verarbeitet und enthalten keine Zusatzstoffe. Je natürlicher unsere Ernährung, desto besser.

Fokus Fleisch: Also macht Fleisch nicht krank?

Dafür gibt es keine evidenten Hinweise. Die Studien, die es dazu zu lesen gibt, sind wissenschaftlich nicht haltbar. Um es an einem Beispiel aus meinem Alltag zu demonstrieren: Meinen Patienten mit starkem Übergewicht und Diabetes empfehle ich dringend, ihre Proteine und Fette in der Ernährung zu erhöhen und ihre Kohlenhydrate zu reduzieren. Außerdem empfehle ich, auf Lebensmittel zurückzugreifen, die möglichst wenig industriell verarbeitet sind. Für Fleisch trifft all das zu.

Fokus Fleisch: Wir haben schon besprochen, dass es keine allgemeingültigen Ernährungsregeln gibt. Hätten Sie trotzdem eine persönliche Empfehlung in Sachen Ernährung?

Meine Empfehlung wäre grundsätzlich eine kohlenhydratarme Ernährung. Das bedeutet, Lebensmittel wie Kartoffeln, Reis, Nudeln und Brot zu reduzieren. Aber auch andere zuckerhaltige Lebensmittel wie Obst und Milch sollten nicht übermäßig verzehrt werden – das alles gilt allerdings nur, wenn man übergewichtig ist oder eine ernährungsbedingte Krankheit hat.

Was dann übrig bleibt, sind zum Beispiel Gemüse, Eier, Fisch und eben auch Fleisch. Fleisch ist gerade für Menschen, die krank sind, in der Philosophie des „Low-Insulins“ empfehlenswert. Es muss nicht jeden Tag sein, aber Fleisch ist ein wichtiger Bestandteil der Ernährung.